Aleppo

Wir tauchen schon um acht an der Rezeption auf, obwohl wir auf der Frühstückskarte 09:30 Uhr notiert hatten. Aber kein Problem, man macht sich sofort ans Werk und wir stärken uns für den Tag.

Draußen regnet es Bindfäden, und da wir gestern Abend die Tagesschau gesehen haben, ist Sändy ein wenig betrübt. Ich versuche sie mit der Feststellung, wir machten ja Kulturlaub und nicht Temperaturlaub, ein wenig aufzuheitern, aber das ist schwierig heute morgen, da ich ihr den Vorabend mit meiner Reisenervosität ein bisschen versaut habe, leider.

Trotzdem gelangen wir trockenen Fußes in den Otobüs nach Iskenderun, wo wir nahtlos direkt in einen Bus nach Antakya wechseln. Dort fahren wir etwas zu weit in die Stadt hinein, ist aber alles kein Problem, mit einem Bus der Linie 14, auf dem Sändy "Otogar" gelesen hat, gelangen wir nach einer Rundfahrt durch die Vorstädte zum Busbahnhof. Verschiedene freundliche Türken hatten uns zuvor zu den Linien 3, 4 oder 7 geraten, wahrscheinlich wären alle richtig gewesen.

Der Busbahnhof mutet an wie ein Flughafen: Ein rundes Terminal, an das sternförmig schicke Reisebusse andocken. Wir brauchen nicht lange suchen: Kaum, dass wir das Terminal betreten haben, berät uns ein quirliger Mann, lässt uns mit einer Mischung aus YTL und € bezahlen und zahlt uns den Rest in Syrischen Pfund (oder Lira, beide Bezeichnungen kursieren) aus.

Dann verschwindet er mit unseren Pässen und ward nicht mehr gesehen. Das muss überprüft werden, aber alles in Ordnung, unsere Pässe werden am Schalter der Gesellschaft, mit der wir fahren werden, gerade bestaunt und munter abgeschrieben.

Beim Warten treffen wir eine Frau, sie ist Libanesin, lebt aber in den USA und weil sie nicht gerne fliegt, ist sie per Schiff nach Barcelona gekommen und von dort mit Schiffen und auf dem Landweg weitergereist. Schließlich geht's los und unser Bus steuert mitten in ein Gewitter hinein Richtung Grenze.

Doch am Grenzübergang ist Stau, nichts bewegt sich. Unser Bus setzt mehrere hundert Meter zurück und fährt schließlich auf der baulich getrennten Gegenfahrbahn bis zur Grenze vor, dabei überholen wir etliche LKW, Busse und Taxen. Doch an der Grenze bewegt sich gar nichts: Niemand verlässt die Türkei, niemand kommt hinein.

Im Bus macht das Gerücht die Runde, es würde gestreikt, womöglich die LKW-Fahrer. Als ich einen kurzen Rundgang aus dem Bus unternehme sagt man mir, die Taxifahrer seien es. In jedem Fall ist die Grenze dicht, die Tore geschlossen. Rechts und links des Grenzübergangs erheben sich die Berge und verleihen der ganzen Situation etwas Dramatik, ein bisschen ist es wie in einem verstopften Trichter.

Dann, nachdem wir vielleicht anderthalb Stunden gewartet haben, heißt es plötzlich: "Jetzt ist auf!" Und tatsächlich, unser Bus setzt sich in Bewegung. Dann heißt es aussteigen und zu Fuß Marsch Marsch, Pässe vorzeigen. Dabei zeigt sich eine extreme Variante des schon am Sabiha Airport bewunderten "aktiven Anstellens": Einfach an der Schlange vorbeigehen und mit möglichst vielen Pässen gleichzeitig unter der Nase des Zöllners wedeln, dann kommt man auch schnell an die Reihe. Währenddessen fahren neben uns reihenweise die leeren Busse durch, sehr eng an uns vorbei, ich rede von Zentimetern.

Schließlich gelingt es Sandra, den Zöllner mit unseren weinroten Reisepässen neugierig zu machen, alle anderen Pässe sind hier blau, und wir bekommen unsere Exit-Stempel. Danach aber nicht etwa die Pässe zurück, nein, ein grinsender Offizieller hüpft damit zur Kabine hinaus und winkt uns zu sich: An einem auf die Verkehrsinsel gestellten Schreibtisch müssen wir noch an einer Umfrage teilnehmen: Ausbildung, Beruf, wieviel Geld in der Türkei gelassen und noch vieles mehr, insgesamt vier DIN A4 Seiten.

Als ob des Trubels nicht schon genug wäre!

Immerhin führt ein Mann Sandra interviewmäßig durch das Formular und ich schreibe die Antworten weitestgehend ab. Wir kommen als letzte zurück in unseren Bus, nachdem noch mal ein türkischer Beamter alle Exit-Stempel durchgesehen hat, geht es weiter.

Auch aus Richtung Syrien stauen sich die LKW mehrspurig. Am Straßenrand ein Feuer, vermutlich wir hier mit Schmuggelware kurzer Prozess gemacht. Wir fahren vielleicht einen Kilometer durchs Niemandsland, dann erreichen wir die syrische Kontrolle.

Unser Schaffner nimmt unsere Pässe an sich und sorgt dafür, dass sie ziemlich direkt auf dem Schreibtisch eines syrischen Beamten liegen. Durch die Halle wandern noch einige andere europäische Touristen, die allesamt sehr gestresst wirken. Kein Wunder, auch hier wird das "aktive Anstellen" praktiziert, und das System, nach dem die Zöllner entscheiden, welchen Pass sie wann bearbeiten, ist für Außenstehende nicht zu durchschauen.

Dank unseres Schaffners kann ich Sandras und meinen Pass jedoch nebst Einreiseformular schon bald entgegennehmen. Als nächstes dürfen wir unser gesamtes Gepäck vor dem Bus aufreihen und ein grimmiger Syrer betrachtet die Ladung. Unsere Rucksäcke werden aber nach kurzem Betasten als harmlos eingestuft und dürfen wieder in den Bus. Andere müssen auspacken. Glück gehabt.

Dann kommt auch ein syrischer Zöllner durch den Bus und sieht noch mal alle Pässe durch, und nachdem er auch kontrolliert hat, ob sich ein blinder Passagier unter der Rückbank versteckt hält, sind wir offiziell drin: "Welcome to your country Syria" verheißt das Schild am Straßenrand.

Ein Syrer im Bus lädt uns zu sich nach Damaskus ein, er möchte uns gerne seine Kunstwerke aus philippinischen Muscheln zeigen. Außerdem könne er uns und unseren Freunden gerne Spezialanfertigungen gravieren, geschenkt. Er fände es aber ganz gut, wenn wir sein Geschäft in Deutschland vertreten könnten: "We could make business!" Als wir ihm erklären, dass nur sehr wenige Deutsche selbständig mit Muschelkunst handeln, sondern die meisten Angestellte sind, wirkt er ein bisschen enttäuscht, dennoch kriegen wir seine Handynummer und E-Mail-Adresse.

An dieser Stelle müssen kurz neue Charaktere eingeführt werden: Ein syrisches Paar, beide mit deutschen Pässen. Sie fahren auch nach Aleppo und wechseln daher mit uns kurz hinter der Grenze in den "Mikrobus", wie der Fahrer des schicken Reisebusses, der weiter nach Damaskus fährt, es nennt.

Der "Mikrobus" ist endlich mal einer, der seines Namens würdig ist: Ein klappringer Minivan mit weit mehr Sitzplätzen als von normalgroßen Menschen regulär einnehmbar, gelenkt von einem alten Mann mit sonnengegerbter, faltiger Haut, dem Aussehen nach könnte er hundert sein.

Der Syrer mit dem deutschen Pass sieht ein bisschen aus wie Meister Eder, trägt auch so einen Hut und unter dem Arm eine Rolle Küchenpapier. Außerdem lacht er pausenlos mit einer unbeschreiblichen Lache, an der Grenze hatte er uns einen Homsianerwitz erzählt und sich darüber scheckig gelacht - aus unserem Reiseführer wissen wir, dass die Homsianer so etwas wie die Ostfriesen Syriens sind.

Auch auf der Mikrobusfahrt lacht er sich halb kaputt, während der Fahrer mit einem weiteren Fahrgast streitet. Offenbar geht es dem Fahrer um seine Bezahlung, da wir alle Bustickets haben und er kein Bargeld zu sehen bekommt. Der eine Beifahrer probiert zu schlichten, aber der Fahrer schreit, brüllt und zetert und im Rückspiegel sehe ich seine Augen wütend aufblitzen, mehrfach tritt er auf die Bremse und gestikuliert wild, er würde den Gast einfach rauswerfen. Meister Eder lacht sich kringelig und ruft: "Kaffee, ja! Sie trinken Kaffee mit Milch!"

Schließlich steckt der Beifahrer dem Fahrer ein paar Scheine zu und bedeutet dem anderen Streithahn, einfach die Klappe zu halten, und nur wenig später herrscht Friede und die drei Herren vorne beginnen, verschiedene Kassetten einzulegen, aber sie können sich nie lange auf ein Lied einigen.

Schließlich erreichen wir Aleppo und laufen, moment "Laufen? Viel zu weit!" sagt ein Mann in olivgrüner Militärkleidung. "Doch, gar nicht weit, nur 800 Meter" sagt Meister Eder und lacht. Also: Wir laufen Richtung Hotelviertel, halten die nicht besonders gute Karte im Reiseführer mal so und mal so und finden schließlich zum Al Gawaher Hotel, wo wir ein dreieckiges Zimmer beziehen.

Unser dreieckiges Zimmer im dreieckigen Al Gawaher Hotel.

Wir entspannen kurz und inspizieren die Dachterrasse, dann treibt uns der Hunger wieder auf die Straße. Auf dem Weg nach draußen beruhigen wir ein nettes deutsches Pärchen, die in einigen Tagen ab Beirut zurückfliegen wollen und von den Protesten gehört haben mit unseren frischen Tagesschau-Kenntnissen (wie sich zeigte wird zu unrecht).

Blick von der Dachterrasse des Al Gawaher Richtung Zitadelle.

Wir schlagen den Weg ins Restaurant-Viertel ein, aber irgendwie ist uns alles ein wenig zu schick und schließlich landen wir beim Iraker, wo das "bidun lachmi" - ohne Fleisch auch problemlos funktioniert, wenn auch ein anderer Gast protestiert, dies sei doch ein Iraker und deren Spezialität nun mal Fleisch. Da es keine Karte gibt, werden wir zur Auswahl unserer Speisen kurzerhand in die Küche gebeten.

Anschließend sehen wir einen Fruchtshake-Stand, an dem Sandra einen Bananenshake bestellt und stattdessen einen Halbliter-Humpen köstlichen Mixgetränks aus allen anwesenden Früchten, Milch und Zucker erhält, bei dessen Entleerung ich helfen muss.

Danach wollen wir nur noch eine Flasche Wasser kaufen, aber ein junger Syrer lädt uns auf einen armenischen Tee ein und nimmt uns dazu mit in sein Büro, aus dem er Touren für Touristen organisiert. Am Ende empfiehlt er zawr auch seine Dienste, aber sehr unaufdringlich, hauptsächlich reden wir bei mehreren Tees über unsere Berufe, Hobbies und seinen deutschen Türkeiurlaubsflirt Nina. "Sie geht gar nicht ans Telefon", klagt er und zeigt mir eine deutsche Mobilfunknummer in seinem Display.

Wir versprechen, ihn anzurufen, wenn wir eine Tour wollen, und gehen wieder ins Hotel. Als letztes an diesem Tag schreiben wir neue Tagebucheinträge in Rekordlänge.

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